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Am Montag, dem 24. Oktober, wich mein braver Sohn die ganze Zeit nicht von meiner Seite. Seine Gegenwart und sein Trost waren die süßesten Wohltaten, die ich mir vorstellen konnte, und ich brauchte sie auch sehr, denn der Morgen würde den Abschluss des Verfahrens gegen Gilles de Rais bringen, Ritter, Baron, Marschall von Frankreich, einst Vertrauter von Königen und Herzögen und Bischöfen, jetzt aber wahrheitsgemäßer als widernatürlicher Unhold, Mörder, Ausweider und Köpfer von Kindern bekannt.
Obwohl sein Tod von vielen begrüßt, ja herbeigesehnt wurde – nicht zuletzt auch von mir –, spürte ich doch das Vergehen jeder Minute, die ihm noch blieb, als wäre es mein Leben, das nun zu Ende ging. Mit jedem Atemzug kam der Gedanke, dass die begrenzte Zuteilung von Atemzügen wieder um einen verringert war. Eine unbeschreibliche, kalte Angst packte meine Eingeweide und lähmte mich so, dass ich mich kaum rühren konnte. Eigentlich hätte ich froh sein müssen, dass Milord nun sterben sollte für die Verbrechen, die er gegen Gott, gegen die Natur und vor allem gegen unschuldige Kinder begangen hatte, die doch immer nur auf die Güte der ihnen Übergeordneten vertrauen wollten.
In diesen letzten Stunden seines Lebens habe ich begriffen, dass mein Schmerz vorwiegend daher rührt, dass ich mir selbst die Schuld für seine Fehler gebe. Dieser Kummer wohnte in meinem Herzen seit Beginn dieses Martyriums – ja während Milords gesamtem Niedergang –, aber erst jetzt habe ich zugelassen, dass er voll und ganz von mir Besitz ergreift. Es scheint keine angemessene Buße für mein Versagen zu geben, aber so lange ich lebe, will ich versuchen, gute Werke zu tun, reinlich zu leben, kleinen Kindern eine Hilfe und Stütze zu sein und Almosen zu geben, so weit ich das kann, damit Gott eines Tages wieder gnädig auf mich herablächeln möge.
Als Milord Gilles im Gerichtsaal all diese Verbrechen gestand, versäumte er es nicht, auf das Verschulden der Hüter seiner Kindheit hinzuweisen. Aber ein vollkommeneres Geständnis hätte wohl auch beinhalten müssen, dass er sich schamlos weigerte, jene Triebe zu unterdrücken, von denen er wusste, dass sie Verbrechen gegen die Natur sind, auch wenn man sie sich nur vorstellt und nicht in die Tat umsetzt, wie er es getan hatte. Vor Gericht sagte er nichts darüber, wie er die Kunst des widernatürlichen Verkehrs von Jean de Craon gelernt hatte, indem er selbst der Gegenstand der Gier des alten Mannes wurde. Auch sagte er nichts darüber, wie er nach jeder Begegnung mit dem alten Ungeheuer bittere Tränen geweint hatte, fast immer in meinen Armen, auch wenn ich zu der Zeit den Grund für diese Tränen noch nicht kannte. Aber ich glaube, dass auch er auf die Güte der ihm Übergeordneten, oder im Falle Jean de Craons, der Mächtigeren vertrauen wollte. Er war so wenig geneigt, gegen seinen Großvater zu sprechen, wie Henriet geneigt war, gegen ihn, Gilles, zu sprechen.
Sein ganzes Leben lang beteuerte Gilles, starke Erinnerungen an seine Mutter und seinen Vater zu haben, obwohl er vor ihrem Tod nur selten in ihrer Gesellschaft war. Er war noch so jung gewesen, als sie diese Erde verließen. Sie verwöhnten ihn schändlich, und mit dieser Maßlosigkeit wollten sie, so glaube ich, ihn für ihre häufige Abwesenheit entschädigen. Die Geschenke, die Geldbeträge, die Freizügigkeit – das alles ist für einen jungen Knaben sehr verlockend. Daran erinnerte er sich, nicht an die Tränen der Verlassenheit. Aber diese Reichtümer taten ihm nicht gut, dessen bin ich mir sicher.
Am 25. Oktober zur Stunde der Terz erhob sich der Ankläger in der oberen Halle von La Tour Neuve und verlangte, dass das Verfahren zu einem Abschluss gebracht werde. Die Richter pflichteten ihm bei, dass es so geschehen solle.
»Gilles de Rais«, sagte Jean de Malestroit.
Zitternd und aschfahl im Gesicht stand Milord auf.
»Wir befinden Euch schuldig des Vorwurfs der verräterischen Apostasie wie auch der abscheulichen Anrufung von Dämonen. Versteht Ihr diese Vorwürfe und unsere Entscheidungen?«
Mit stiller Scham sagte er: »Ja, Euer Eminenz.«
»Außerdem befinden wir Euch schuldig, das Verbrechen und das krankhafte Laster des widernatürlichen Verkehrs mit Kindern beiderlei Geschlechts begangen und böswillig vollzogen zu haben. Versteht er diese Vorwürfe und unsere Entscheidungen?«
»Das tue ich, mein Herr Bischof. Möge Gott meiner Seele gnädig sein.«
»Gilles de Rais, Ihr werdet hiermit aus der Katholischen Kirche ausgeschlossen, und es wird Euch verboten, die Sakramente zu empfangen.«
Ich weiß nicht, warum ich so überrascht war; das war doch ohne Zweifel alles abgesprochen. Vielleicht hatte Jean de Malestroit auf dem kleinen Drama bestanden, das sich jetzt entwickelte, um den Schein zu wahren. Auf jeden Fall spielte Milord seine Rolle gut. Er fiel auf die Knie und bat tränenreich und stöhnend, man möge ihm gestatten, seine Sünden einem Priester zu beichten, damit er vor dem Tod die Absolution erhalte.
Auch Jean de Malestroit spielte seine Rolle gut; er war der gestrenge Gnadenverweigerer, der unbeugsame und aufrechte Verteidiger des wahren Glaubens; zumindest lange genug, um die gewünschte Wirkung zu erzeugen. In einer großen Geste des Mitgefühls rief er Jean Jouvenal vom Karmeliterorden zu sich und hieß ihn, Milord die Beichte abzunehmen, die so leidenschaftlich und ernsthaft dargeboten wurde, dass Seine Eminenz gar keine andere Wahl hatte, als Gilles de Rais wieder in die Kirche aufzunehmen.
Ich fragte mich noch einmal, welchen Schatz er angeboten hatte, um dies alles zu erreichen.
Doch als die Nachricht davon die Zeltlager erreichte, gab es merkwürdigerweise nur wenig Enttäuschung; als mein Sohn und ich später an diesem Tag ziellos durch die Menge schlenderten, hörten wir nur sehr wenig Murren und viel Zustimmung. Auch diese erschöpften Menschen wollten verzweifelt an die Güte der ihnen Übergeordneten glauben.
Am späten Nachmittag wurde Milord unter Bewachung in das nahe Schloss von Bouffray gebracht, wo er seine Beteiligung an dem Debakel in Saint-Etienne-de-Mer-Morte gestand. Pierre l’Hôpital richtete es so ein, dass er seine Strafe von fünfzigtausend écus an den Herzog der Bretagne mit einer Überschreibung eines seiner letzten verbliebenen Besitztümer bezahlen konnte. Nachdem dies erledigt war, blieb nichts mehr zu tun, als ihn zum Tode durch Erhängen und Verbrennen zu verurteilen. Dieses Urteil sollte bereits zur elften Stunde des nächsten Tages vollstreckt werden, ergo dem 26. Oktober.
Und dann bat er öffentlich um die Nachsicht, der Jean de Malestroit bereits zugestimmt hatte: »Bitte, Monsieur le Président, ich bitte Euch, meinen Dienern Henriet und Poitou zu gestatten, vor ihrer Hinrichtung Zeuge meines Todes zu werden, damit sie auch wissen, dass ich bestraft wurde, und sie nicht mit der Ungewissheit sterben müssen, dass mir dieses Schicksal möglicherweise letztlich doch erspart blieb.«
Dies wurde genehmigt. Danach wurde das Urteil des weltlichen Gerichts verkündet.
»In Anbetracht des freiwilligen Geständnisses des Angeklagten bezüglich der Verbrechen, derer er angeklagt wurde, und im Einklang mit der Beichte seiner Sünden und der Wiedereinsetzung in die göttliche Gnade der Sakramente wird hiermit verfügt, dass er gehängt bis zum Tode und dann verbrannt werden soll, dass aber sein Leichnam aus den Flammen geholt werden soll, bevor er gänzlich vernichtet ist, und dann in geheiligter Erde begraben werden soll.«
Und damit hatte es den Anschein, als wäre nichts mehr zu tun. Doch Milord äußerte noch eine weitere Bitte. Er wandte sich direkt an Pierre l’Hôpital, der großen Einfluss auf Jean de Malestroit hatte. »So es den Richtern und Anklägern beliebe, ist es mein großer Wunsch und meine Hoffung, dass eine allgemeine Prozession veranstaltet werde, damit ich und meine Diener im Angesicht des Todes die Hoffnung auf Erlösung bewahren können.«
Er trug keines seiner prächtigen Gewänder, die nun bald zusammen mit dem Rest seiner irdischen Habe unter den Bittstellern aufgeteilt werden würden, sondern eine schlichte graue Kutte aus Leinen mit einer Kordel um die Mitte. Er ging langsam, die Hände inbrünstig gefaltet, durch eine tausendköpfige Menge, die zusammengeströmt war, um ihn sterben zu sehen. Jean de Malestroit ging ein gutes Stück hinter seinem Gefangenen, und hinter ihm ich in Gesellschaft meines Sohnes Jean, der unaufhörlich betete, während wir zum Kirchplatz schritten, wo Galgen und Scheiterhaufen bereits errichtet waren. Die Menschen, die sich versammelt hatten, bekundeten eine Vielzahl von Gefühlen und Empfindungen gegenüber dem Mann, der ihre Kinder getötet hatte; einige verlangten, dass man ihn ausweide und ihm den Kopf abschneide, wie er es mit ihren Söhnen gemacht hatte; andere flehten für ihn um Gnade mit dem Argument, es sei doch sicherlich falsch, den Verlust eines Lebens mit dem Auslöschen eines anderen zu rächen. Eine Erklärung für das Verhalten der Menge gab es nicht; es war eine Art allgemeiner Wahnsinn, der sich je nach dem unerschütterlichen Glauben im Herzen jedes Einzelnen unterschiedlich äußerte.
Vor den Augen seiner Diener Poitou und Henriet stieg Gilles de Rais aus eigener Kraft die Stufen zum Galgen hoch. Seine Knie waren gebeugt und zittrig, und da seine Hände auf den Rücken gefesselt waren, stolperte er einmal, was seine natürliche Anmut und Würde störte. Er schüttelte den Kopf, um jene abzuwehren, die ihm zu Hilfe eilen wollten. Unerklärliche Tränen strömten mir über die Wangen, während ich zusah, wie dieser Mann, der als Kleinkind so süß an meiner Brust gesaugt und als Knabe so grausam meinen Sohn getötet hatte, auf das Podest stieg und sich unter das Seil stellte. Kurz hob er den Kopf und betrachtete das Werkzeug seines Todes, zuckte aber nicht zusammen, als ihm die Schlinge um den Hals gelegt und festgezurrt wurde. Er hielt die Augen offen, als die Falltür des Galgens unter ihm wegkippte. Einige Augenblicke schwankte und zuckte er, fast so, als würde eine Windbö ihn erfassen. Vielleicht zerrte der Dämon Barron, der sich ihm so lange entzogen hatte, nun an seinen Füßen.
Die Menge schwieg, bis sein Körper aufhörte zu zucken und völlig erschlaffte. Und dann erhoben sich Rufe und Triumphschreie, als wollten sie bis in den Himmel steigen. Der Scheiterhaufen unter ihm wurde entzündet, und Flammenzungen leckten an seinem schwankenden Leichnam. Als seine Kleidung lichterloh brannte, wurde Wasser auf die Flammen geschüttet, und sie verlöschten.
Sein Leichnam wurde in einen Sarg gelegt und auf einem schlichten Karren durch die Straßen von Nantes gefahren. Das Wehklagen und die Hochrufe derjenigen, die an dieser makabren Prozession teilnahmen, konnten kaum auseinander gehalten werden, denn Trauernde und Feiernde schienen sich die Waage zu halten.
Wie betäubt saß ich in dem Gottesdienst zum Andenken an Gilles de Rais, der in der Kirche von Notre Dame du Carmel am anderen Ende der Stadt abgehalten wurde. Dort wurde er auch in eine Gruft neben andere wichtige Personen gelegt, einige davon seine Vorfahren. Sicherlich waren sie alle auf dieser Erde bessere Menschen gewesen als er, vielleicht verdienten sie sogar die Gnade eines so ehrenvollen Grabes.
Aber Gilles de Rais verdiente es nicht. Noch lange, nachdem die anderen gegangen waren, um zu feiern oder zu trauern, wie es ihnen beliebte, stand ich vor der Gruft und stellte mir vor, auf welche Art ich sie entweihen könnte. Dort fand mich schließlich Jean de Malestroit.
»Ich habe etwas, das ich Euch geben muss«, sagte er.
Ich kann nicht beschreiben, was ich empfand, als ich das Paket öffnete, das er mir in seinen Privatgemächern überreichte. Es war das Letzte, was ich erwartet hätte, obwohl ich nicht sagen kann, dass ich überhaupt eine Vorstellung davon gehabt hatte, was dieses Geschenk sein könnte.
»Er hat ihn all diese Jahre aufbewahrt«, sagte mir mein Bischof.
»Er sagte mir, er sei sein kostbarster Besitz, noch wertvoller als die grimoires und die Folianten über Alchimie und Teufelsbeschwörung, die er so sorgfältig hütete. Jean de Craon zwang ihn, die Überreste von der Stelle am Bachufer zu holen, und stand über ihm, als er sie beerdigte. Aber er kehrte noch einmal zu dieser endgültigen Grabstelle zurück, um dies zu holen.«
Der abgebrochene Zahn, diese süße kleine Unvollkommenheit – es war Michel. Es konnte nicht anders sein.
»Er sagte, der Rest seiner Knochen sei leicht zu finden, er zeichnete mir sogar eine Karte. Ich habe bereits Männer ausgeschickt, um sie zu bergen.«
Das war also Gilles’ Gegenleistung in diesem Handel – einen einfacheren Tod im Austausch für meinen Frieden. Ich hielt den nackten Schädel einige Minuten lang in meinen Armen, bevor ich etwas sagen konnte. Als ich keine Worte des Dankes mehr fand, fragte ich: »Wollt Ihr mich nach Champtocé begleiten? Ich möchte ihn neben seinem Vater begraben.«
»Selbstverständlich. Ich würde sogar darauf bestehen, wenn Ihr mich nicht gefragt hättet. Dies ist keine Reise, die man alleine unternehmen sollte.«
»Ich möchte gern mit dem ersten Licht aufbrechen«, sagte ich.
»So soll es geschehen«, antwortete er.
Spät am nächsten Nachmittag legten Jean de Malestroit und ich den kopflosen Leichnam meines Sohnes in ein Grab neben Etienne. Mit einigem Widerstreben legte ich den Schädel mit dem vertrauten abgeschlagenen Zahn an seinen Platz. Zwei starke Soldaten aus Champtocé waren mir von dem alten Kastellan Guy Marcel überlassen worden, der mit uns kam, um das Entfernen der Steine und ihre anschließende Wiederaufschichtung zu überwachen. Der Bischof von Nantes sprach das Sakrament zu Ehren meines Sohnes, eines Kindes, dessen Geburt ihm eine solche Gnade nicht hätte zuteil werden lassen, wäre er unter weniger bemerkenswerten Umständen gestorben.
Aber er war Gilles de Rais’ erstes Opfer – und darin lag eine gewisse Bedeutung.
Indem ich ihm, dem fils de lait meines älteren Sohnes Jean, verzieh, war ich sein letztes.
Und darin lag ein gewisser Frieden.